20.10.23
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Alter Ofen, neuer Teig

Brot und der absurde Kult ums Warten

Ich hasse es, Schlange zu stehen. Dabei ist mir komplett egal, worum es geht – ob es der hippe Club mit der angeblich härtesten Tür der Stadt ist, der sagenumwobene Gemüse-Döner oder das Frühstücksbuffet im Hotel, das angeblich die Mühe wert sein soll. Das Szenario ist immer dasselbe: Man steht herum, tut nichts, und hofft, dass man nicht am Ziel vorbeischrammt, weil entweder der Türsteher schlecht gelaunt ist oder die heiß ersehnte Ware vergriffen ist, bevor man überhaupt in Reichweite kommt. Und ja, auch am Sonntagmorgen, wenn die Stadt noch schläft, formieren sich Schlangen – diesmal aber nicht für den nächtlichen Clubbesuch, sondern für das, was wir 2024 anscheinend zu unserem neuen Luxusgut erklärt haben: Brot.

In einer deutschen Metropole stehen Menschen gerne mal 45 Minuten für einen Laib Brot an. Nein, nicht wegen einer Pandemie-bedingten Beschränkung oder irgendeiner anderen Knappheit, sondern aus freien Stücken. Und das Beste? Es ist nicht mal günstig. Bei „SoFi“ in den Sophienhöfen kostet ein Laib Brot stolze 8,20 Euro. Ja, richtig gelesen – fast zehn Euro für Brot. Und dennoch sage ich: Es lohnt sich. Es ist ein verdammt gutes Produkt. Und ja, auch ich stehe in der Schlange, die still und leise die Straßen füllt, mit dieser unterschwelligen Angst im Nacken, dass ich leer ausgehe, weil die Ladung Brote limitiert ist.

Warum sterben Traditionsbäcker, während Brot als Luxus zelebriert wird?

Was ich mich frage: Warum schaffen es neue Konzepte, die – seien wir ehrlich – oft von Quereinsteigern stammen, plötzlich das gute alte Handwerk in stylischen neuen Verpackungen erfolgreich zu machen, während Traditionsbäcker unter Preisdruck und Personalmangel leiden? Es ist ein Trauerspiel, wenn man sieht, dass die „1. Rheinländische Bäckerei Mälzer“ in Berlin nach über 125 Jahren die Öfen endgültig ausgehen lässt. Für mich als Exil-Rheinländer war das der letzte Ort, um ein richtiges Röggelchen oder anständiges Schwarzbrot zu bekommen – ein Stück Heimat in einer Stadt voller süddeutscher Brezeln.

Der Kampf der Familienbetriebe:
Persönlicher als mir lieb ist

Was mich aber besonders trifft, ist die Schicksalshaftigkeit dieser Geschichte. Als Sohn eines Metzgers weiß ich nur zu gut, was es bedeutet, einen Familienbetrieb durch die Höhen und Tiefen der Marktwirtschaft zu navigieren. Discounter und Filialriesen legen die Preise fest, während kleine Handwerksbetriebe ums Überleben kämpfen. Mein Vater beherrschte sein Handwerk perfekt und lebte für seine Produkte. Aber ich habe früh erkannt, dass allein das beste Produkt keine Kunden bringt, wenn das Marketing nicht stimmt.

Schon in den 90ern stellten meine Eltern den Betrieb auf Bio um – viel zu früh, möchte man sagen. Aber mein Vater machte keine Kompromisse bei der Qualität, vernetzte sich mit Bio-Landwirten und baute eine Wertschöpfungskette auf, die bis zum Schlachthof höchsten Standards entsprach. Doch all das half wenig, wenn die Kunden im Supermarkt für die Hälfte des Preises einkauften. Die Lektion? Qualität muss erklärt werden. Und zwar so, dass es motiviert und nicht belehrend wirkt. Das habe ich bis heute nicht vergessen.

Der Trend zur Tradition:
Wie Brot zum Event wird

Und hier kommen wir zum Kern der Frage: Warum stehen wir 2024 für Brot an, als wäre es der Eintritt zur exklusivsten Party der Stadt? Die Antwort: Inszenierung. Ein brillantes Marketing. Brand-eins bringt es in einem ironischen Video auf den Punkt: Transparenz verkauft. Neue Ketten wie „Zeit für Brot“ schaffen es, die Backstube zum Spektakel zu machen. Die Mitarbeitenden stehen nicht mehr in dunklen, gekachelten Räumen, sondern in lichtdurchfluteten „Bühnen“, auf denen sie ihr Handwerk zelebrieren. Das begeistert nicht nur die Kundschaft, sondern zieht auch die richtigen Mitarbeitenden an – solche, die Wertschätzung für ihr Handwerk erfahren und nicht nur in der Backstube verschwinden.

Tradition neu gedacht:
Warum das „Wie“ entscheidend ist

Der Fall der Bäckerei Mälzer zeigt: Ein „Why?“ (Familientradition) und ein „What?“ (hochwertige Produkte) reichen nicht mehr aus. Was zählt, ist das „How“ – also, wie das Ganze inszeniert wird. Es reicht heute nicht mehr, einfach „gutes Brot“ zu backen. Man muss eine Geschichte erzählen, eine Marke aufbauen und die Kund*innen auf einer emotionalen Ebene abholen.

Man kann sich darüber lustig machen und nostalgisch behaupten, dass früher alles besser war. Aber Fakt ist: Nur wer es schafft, das „Früher“ in das „Heute“ zu übersetzen, hat eine Chance auf morgen. Es braucht eine nachhaltige Philosophie (oder Purpose, wie es heute so schön heißt), Neugier und vor allem den Mut, neue Wege zu gehen.

Und während ich das alles schreibe, frage ich mich: Wo zur Hölle bekomme ich jetzt in Berlin noch einen Weckmann zu St. Martin?

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